DIE GESCHICHTE

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Die Geschichte der Walser 

Aus Mangel an Weiden und Anbauflächen verließen mehrere Bauernfamilien im fernen 9. Jahrhundert den alemannischen Raum in Richtung Süden und gaben somit den Anstoß zur größten Völkerwanderung in der europäischen Geschichte. Sie erreichten Bern und besiedelten die umliegenden Anhöhen, die heute als Berner Oberland bekannt sind. Hier zeichnete sich das Schicksal dieser Auswanderer bereits ab: es zog sie zu hochgelegenen und unbewohnten Gebieten hin, die am Fuß großer Bergmassive lagen. Sie passten sich der Rauheit der Gegend und dem strengen Klima an und versuchten sofort, das neu besiedelte Land bewohnbar und fruchtbar zu machen. Ihre Arbeit war besonders mühsam: sie mussten entsteinen, roden, bewässern, düngen und Häuser, Dämme und Lawinenverbauungen errichten. Zum Erhalt dessen, was sie mühsam errichtet hatten, mussten sie dann ständig gegen allerlei Naturkatastrophen ankämpfen. Der stetige Mangel an neuem freiem Lebensraum, der nur noch an den hochgelegenen Berghängen zu finden war, ließ sie ihre Wanderung fortsetzen und unwegsame und gefährliche Pässe überschreiten. Das erste zu bewältigende Gebirgsjoch war der Grimselpass, der es  ihnen um das Jahr 1.000 ermöglichte, das hohe Ostwallis zu erreichen und in dessen Hauptstadt Sitten hinunterzugelangen. Es handelte sich dabei um eine zwar große, aber keineswegs letzte Ansiedlung. Vom Jahr  1.200 bis zum 15. Jahrhundert folgten nämlich etliche Umsiedlungen. Über den Gries, den Theodul  und den Monte Moro kamen diese Neuland Suchenden jeweils nach Pomatt, nach Gressoney/Issime und nach Macugnaga. Von hier aus breiteten sie sich dann auch in die übrigen Täler am Süd- und Osthang des Monte Rosa aus: Riva Valdobbia, Alagna, Rima, Rimella usw. Über den Furkapass zogen andere Gruppen nach Nordosten, besiedelten einige Teile der Schweizer Kantone Sankt Gallen und Graubünden, des Fürstentums Liechtenstein und des österreichischen Vorarlbergs und einige von ihnen stießen sogar bis nach Galtür (Tirol) vor. All diese Wanderer wurden nunmehr und völlig zu Recht «Bergleute» genannt. Die Bewohner des Wallis hießen «Walliser» und sie trugen diese Bezeichnung – in der gekürzten Form «Walser» – mit sich, als sie umzogen. «Walser» wurden von da an auch all ihre Nachkommen genannt, die sich woanders niederließen. Begünstigt wurden diese Ansiedlungen von den Lehensherren, die Besitzer der «neuen» Gebiete waren und so wichtige Gewinne witterten, dass sie sich bereit erklärten, den Ankömmlingen einige Privilegien zu gewähren. Es entstand  somit ein gegenseitiges Verhältnis, ein besonderer und im übrigen Europa eher unbekannter Rechtsstatus, der bald als «Walserrecht» bekannt wurde. Die Walser wurden als Ansiedler bzw. Kolonisten anerkannt, was ihrem natürlichen Wunsch, freie Menschen zu sein, entsprach. Die Familien durften das Land untereinander aufteilen, die Grundstücke mit fixem Pachtzins vererben (dadurch sollten die gute Führung und Verbesserungsarbeiten gefördert werden), das gesamte Gebiet verwalten und im Falle minderer Straftaten sogar die Justiz ausüben. Diese Geschichte von Menschen und Gegebenheiten kann von der Gesamtheit der geologischen Ereignisse und der klimatischen Umbrüche, welche im Laufe der Zeit diese Regionen prägten und veränderten, nicht abgekoppelt werden. Die Beschaffenheit des Reliefs weist typische Folgen langanhaltender Gletschererosion auf: alluviale Ebenen (drei im oberen Lystal), einen Bach, der von einer Ebene zur nächsten hinunterspringt und dabei Schluchten und Becken gräbt, steile und felsige Hänge auf beiden Talseiten und weiter oben – auf verschiedenen Höhen – Geländestufen. Was das Klima anbelangt, fand die Walserwanderung in einer sehr günstigen Zeit statt: Stark geschrumpfte Gletscher und mildere Temperaturen erleichterten das Urbarmachen und die Verfestigung des Bodens und ermöglichten die Umsiedlung von Kindern und alten Leuten und die Beförderung des Viehs und des Hausrates. Die Lage änderte sich, als eine neue schwere und durchaus ungünstige Zeit eintrat. Um die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts begann nämlich die so genannte «Kleine Eiszeit», die über ein Jahrhundert dauerte, viele Wiesen mit Eis bedeckte und mehrere Äcker unfruchtbar machte. Die Landwirtschaft konnte bald den Bedürfnissen der Familien nicht mehr gerecht werden. Man musste also neue Wege gehen. Da sie es gewohnt waren, lange Strecken zurückzulegen, beschlossen die Gressoneyer Männer Krämer zu werden und wurden mit der Ausfuhr von Stoffen und Seidenwaren in die Schweiz und nach Süddeutschland, deren Sprache auch ihre eigene war, besonders erfolgreich. Issime erfuhr hingegen bis Ende des 18. Jahrhunderts einen gewissen Wohlstand, denn es war Gerichtssitz der Herren von Vallaise. Später schlug aber die Wirtschaftslage um und auch die Issimer Männer mussten auswandern. Sie zogen meist nach Frankreich und in die Schweiz, wo sie als Bauunternehmer und Maurer arbeiteten. In ihrem Herzen trugen diese Walser aber immer ihre Familie und ihr Dorf. So oft wie möglich kamen sie nach Hause und nach Abschluss ihrer Tätigkeit zogen sie sich in ihrem Tal zurück, wo sie das verdiente Geld investierten. Bei ihrer Heimkehr brachten sie gewöhnlich keine Braut mit, weil sie lieber eine Frau aus dem Dorf heirateten. Aus der Geschichte der Walser wird deutlich, dass eine starke Identität und eine lebhafte Kultur das Leben dieser Bergbewohner prägte. Sie schätzten am meisten ihren immateriellen Reichtum, den sie immer weiter ausbauten und den sie ihren Kindern unbedingt weitergeben wollten. Dieser immaterieller Reichtum spiegelt sich auch im Materiellen wider und verleiht den Walsergemeinden des oberen Lystals ein ganz besonderes und angenehmes Flair. Die Präsenz vieler kleiner Weiler ist ein Merkmal, welches bereits von Tacitus erwähnt wurde: «Sie bilden keine Siedlungen … sie leben getrennt und für sich allein … dort, wo eine Quelle, der Boden oder ein Wald zum Verweilen einlädt». Typisch für  die Baukunst ist das Haus mit Mauerwerk im Erdgeschoss und Holz (Blockbau) für die oberen Stockwerke. Gemütliche und schön eingerichtete Häuser und bemerkenswerte Sauberkeit selbst im «Wohngade», einem typischen Gressoneyer Raum, der in zwei Hälften aufgeteilt war: eine für das Vieh und eine holzgetäfelte für die Menschen, die sich tagsüber und in den arbeitsreichen und oft fröhlichen Winterabenden dort aufhielten. In Issime verlief das Winterleben hingegen meinst in einem «Pielljer» genannten Zimmer, das sich über dem Stall befand und vollständig  mit Holz verkleidet war. Überliefert wurde das Walsergut von Generation zu Generation auch durch andere Mittel wie etwa die Sprache, die Frömmigkeit, den Totenkult, die Folklore, die Gedichte, die Lieder, die Sprichwörter, die bildenden Künste, das typische Handwerk und verschiedene Aktivitäten und Veranstaltungen. Es hat sich bis zu unserer Generation erhalten und kennzeichnet immer noch die Gegend, wo die Walsergemeinschaften des oberen Lystals leben: eine von der Natur geprägte Landschaft ,die wir durch unsere Arbeit und mit unserer Kultur stark beeinflusst und belebt haben, sodass unser Tal heute zu den berühmtesten und geschichtsträchtigsten Ferienorte des Aostatals zählt. Heute haben wir ein pulsierendes Leben. Obwohl wir die technische und wirtschaftliche Entwicklung nicht verschmähen, wollen wir unsere Herkunft, an der wir besonders hängen, respektieren und ihr immer treu bleiben. Wir sind auf sie sehr stolz und deshalb setzen wir jene uralten Traditionen fort, welche die so genannte «Walserwanderung» und die zahlreichen sozialen und kulturellen Veränderungen überlebt haben. Zu Neujahr singen wir das Neujahrslied und schenken den Kindern kleine Gaben; am Nikolaustag erhalten die Kleinen von diesem Heiligen immer noch Geschenke; am 24. Juni bringen wir zu Ehren von Johannes dem Täufer, dem Patron von Gressoney-Saint-Jean, einige Lämmer in die Kirche und jedes Jahr bekunden wir unseren Glauben durch Prozessionen, Wallfahrten und Feiern in den Kapellen. Wir ehren und feiern Sankt Sebastian, unseren «winterlichen» Schutzherrn, denn in dieser Jahreszeit kommen alle Ausgewanderten zu ihren Familien zurück. Außerdem messen wir dem Totenkult eine große Bedeutung bei. Anlässlich der Totenehrung bereiten wir den Verstorbenen einen reich gedeckten Tisch vor. Nach altem Brauch pflegen wir in den Almhütten eine Schüssel frisches Wasser für unsere Abgeschiedenen zu hinterlassen, wenn wir für längere Zeit unsere «Béerga» verlassen. Wir hängen an unseren folkloristischen Veranstaltungen und überliefern der Nachwelt gerne ein paar Rezepte unserer Großmütter. Auf die Sauberkeit und Gemütlichkeit unserer typischen Wohnungen legen wir großen Wert. Sie sind meistens mit Holz verkleidet und durch alte Steinöfen, die oft Namen, Daten und Symbole tragen, angenehm geheizt. Überdies wollen wir unsere Sprachen, d. h. das Titsch in Gressoney und das Töitschu in Issime, erhalten und sie auch in der Schule lehren und überliefertes Kulturgut wie etwa Gedichte, Lieder, Sprichwörter und Kochrezepte sammeln und veröffentlichen. Mit großem Stolz tragen wir unsere Tracht. Das harmonische Zusammenleben mit der Natur haben wir uns zur Lebensaufgabe gemacht, denn wir wissen, dass gute Lebensverhältnisse nur dann gegeben sind, wenn man die Umwelt schützt und respektiert. Wir interessieren uns deshalb für die Flora, deren Schönheit wir bewundern. Aus vielen Früchten (z. B. Waldbeeren) und Pflanzen gewinnen wir sowohl Esswaren als auch gute Medikamente. Dem Leben der Tiere schenken wir besondere Aufmerksamkeit, denn daraus lassen sich bestimmte Schlussfolgerungen ziehen. Wir haben um die Anerkennung verschiedener Naturschutzgebiete gekämpft, wo sich das Wild fortpflanzen kann. Wir sind dabei dem Beispiel vom Gressoneyer Joseph Zumstein gefolgt, der als erster vor dem Aussterben der Steinböcke, die heute glücklicherweise wieder ziemlich zahlreich sind, gewarnt hatte. Im Jahre 1833 führte Joseph Alby aus Issime eine Neuerung von ausschlaggebender Bedeutung in die Bienenzucht ein. Er erfand und benutzte waagerechte Bienenstöcke, deren Waben einen Wabenhalter hatten und daher beweglich waren. Während der Honigernte wurden somit keine Bienen mehr getötet oder verscheucht. Fleiß und Ernst sind für uns unantastbare Werte. Neben dem Alpinismus bieten wir viele andere Sportmöglichkeiten an, wie z. B. Tennis, Kugelspiel, Reiten und Golf, die auch zu unseren Freizeitbeschäftigungen gehören. Am wichtigsten ist aber der Wintersport und die damit zusammenhängenden Modernisierungsarbeiten und Veranstaltungen. Einige unserer Athleten haben bedeutende Wettkampfleistungen erzielt und manch einheimischer Bergsteiger mischt seit jeher im internationalen Alpinismusgeschehen vorne mit. Wir hängen zwar an der Vergangenheit, aber unsere Haltung artet nie in sterilem Konservativismus aus. Alte Erfahrungen sollen für uns und die ganze Menschheit die Richtlinien auf dem Weg zu den Zielen der Zukunft sein.

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